Gehörlos - Was heißt das? www.visuelles-denken.de

"Gehörlosigkeit ist einfach, wenn man nichts hören kann und mit den Händen redet - sonst ist alles genauso wie bei anderen Leuten", glauben viele Menschen. Und dann sind sie ganz verwundert, wenn ich widerspreche. "Was ist denn noch anders?", wollen sie wissen. "Ich hatte mal einen Kollegen, der konnte nichts hören, aber sonst war der ganz normal", erzählen manche. "Also, wo ist da der große Unterschied?"

Die Frage ist berechtigt, auf den ersten Blick erscheint ja alles so einfach und klar. Nur ist die Antwort nicht so leicht. Denn natürlich ist ein Gehörloser nicht wie der andere, und man kann nicht mal eben eine Studienreise nach Gehörlosistan oder Gebärdenland machen, um die Lebensweise der Bewohner kennenzulernen. Trotz mehrerer Jahre Unterricht in Gebärdensprache, Selbstversuchen mit Ohrstöpseln und weggedrehtem Ton am Fernseher, vielen privaten Kontakten zu Gehörlosen sowie Arbeit für und mit Gehörlosen kann ich Ihnen noch immer nicht erklären, wie es wohl ist, gehörlos zu sein. Nein, ich kann es mir nicht einmal vorstellen - viel zu tief sind wir Hörende in der Welt der Geräusche verwurzelt.

Was ich jedoch zu wissen glaube, ist, dass es zwischen Gehörlosen und Hörenden durchaus einige Unterschiede im Denken und Handeln gibt. Das meine ich keineswegs wertend! Ähnlich verhält es sich mit Nord- und Süddeutschen, Ost- und Westdeutschen. Der andere ist immer "irgendwie anders". Sich gegenseitig wirklich zu akzeptieren, fällt leichter, wenn man die Unterschiede kennt und annimmt, statt sie großzügig zu übersehen oder beiseite zu drängen. Um jemand anderen anzunehmen, wie er ist, muss man erstmal wissen, wie er ist.

Von "Du verstehst die Gehörlosen wirklich gut" bis "So ein Quatsch, das ist doch ganz anders" habe ich schon alle Stufen von Lob und Tadel bekommen, wenn ich dachte, etwas kapiert zu haben. Ich kann Ihnen hier also keine letzten Weisheiten bieten, sondern nur aus meiner Erfahrung und meiner ganz subjektiven Sicht ein paar Dinge schildern, worin sich Gehörlose von Hörenden unterscheiden. Vielleicht wächst so ein bisschen mehr Verständnis füreinander heran oder sogar die Neugierde in Ihnen, selbst einmal Gehörlose kennenzulernen und sich ein eigenes Bild zu machen.

Eine Welt ohne Musik

Häufig befällt Hörende Mitleid, "weil die armen Gehörlosen ja keine Musik und kein Vogelgezwitscher hören können." Mal abgesehen davon, dass die meisten Hörenden das vielgelobte "Vogelzwitschern" so gut wie nie bewusst wahrnehmen (das Gehirn filtert es als "unwichtige" Information heraus): Vermissen Sie die ultravioletten Farben der Blumen? Oder die Ultraschallrufe der Fledermäuse? (Menschen können kein ultraviolettes Licht sehen und keinen Ultraschall hören.) Wohl kaum. Ähnlich geht es Gehörlosen, die von Geburt oder frühen Kindesjahren an nicht hören können: Sie vermissen häufig keine Musik, weil sie noch nie welche gehört haben. Die Musik fehlt Ihnen nicht in ihrer Welt.

Ich sehe schon die Aufschreie einiger Gehörloser, die von sich selbst erzählen, dass sie ohne Musik nicht leben könnten. Die es lieben, ihre Hand aufs Klavier zu legen, Diskotheken zu besuchen oder ihre Stereoanlage zu Hause voll aufzudrehen. Sie nehmen die Schwingungen mit den Fingern, den Füßen und dem Bauch wahr. Dabei können sie sich viel besser auf Feinheiten konzentrieren als Hörende, deren Gehirn voll ausgelastet ist mit den Signalen von den Ohren. Für die Musikliebhaber unter den Gehörlosen kann das ein ähnlich schönes Erlebnis sein wie das "richtige" Hören.

Sehen statt hören

Die Welt hält für Gehörlose nicht weniger Schönheiten bereit, nur liegen die Schwerpunkte anders, als wir Hörende es gewohnt sind. Dass Gehörlose Schwingungen des Bodens, eines Tisches oder anderer Gegenstände viel bewusster wahrnehmen, haben wir eben schon erfahren. Vor allem nutzen sie aber ihr Sehen. Informationen zum Orientieren, Lernen, Interagieren mit der Umwelt, die Kommunikation - fast alles verläuft optisch. Sehr viele Gehörlose denken sogar in Gebärdensprache, daher der Name dieser Website. (Das Gehirn verarbeitet die Gebärdensprache jedoch in den Sprachzentren und nicht in den Arealen für visuelle Reize.)

Im Gegensatz zum Gehör, das ständig Geräusche aufnimmt, muss man mit den Augen hinschauen, um etwas zu sehen. Darum kann an Gehörlosen schnell mal etwas vorbeilaufen. Wie die Königin von England heißt, schnappen Hörende zwischendurch mal auf, ein Gehörloser weiß die Antwort nur dann, wenn er genau diese Information gelesen oder gesehen hat - en passant erfährt er das nicht. Das kann schnell zu Missverständnissen führen, wenn ein Gehörloser nicht zur Betriebsversammlung erscheint (der Termin wurde nur per Lautsprecher durchgegeben), den Geburtstag eines Kollegen vergessen hat (das heimliche Getuschel konnte er nicht hören) oder ein Kind nicht weiß, dass Hunde bellen. Deswegen sind Gehörlose nicht stur oder gar dumm. Man muss es ihnen nur so mitteilen, dass sie es sehen können.

Womit wir beim Thema Lippenlesen wären. Haben Sie das schon einmal versucht? Also, ich kann das kaum. Ein bisschen machen wir es unbewusst alle, doch alleine damit ganze Wörter oder Sätze zu verstehen, ist unheimlich schwierig. Aber von den Gehörlosen erwarten Hörende, dass sie alles verstehen, was wir vor uns hinnuscheln. Ich kenne Gehörlose, die sehr gut Absehen können, doch auch die müssen passen, wenn ich "ganz normal" fast ohne Lippenbewegungen spreche. Ein wenig mehr Anstrengung auf unserer Seite kann da wahre Wunder wirken.

Wenn die Unterhaltung in Gebärdensprache verläuft, dreht sich die Situation plötzlich um. Für Gehörlose ist es keine Schwierigkeit, einem Dialog zu folgen, in dem zwei Personen gleichzeitig gebärden (ich dagegen verliere sofort den Faden). Sie erkennen mühelos verwaschen ausgeführte ("genuschelte") Gebärden und können ohne Probleme in eine laufende Diskussion einsteigen. Möchten Sie eine Ahnung davon erhaschen, wie sich Gehörlose unter lauter Hörenden fühlen? Dann besuchen Sie eine Feier von Gehörlosen, oder gehen Sie zu einer Aufführung eines Gebärdensprachtheaters. Dieser Rat ist ernst gemeint. Sie lernen dadurch mehr als aus vielen, vielen schlauen Büchern.

Vielleicht haben Sie ja das Glück, an einem Abend mit Gebärdensprachpoesie teilnehmen zu können. Das gibt es wirklich, und das ist wunderschön. Auch wenn Sie überhaupt nichts verstehen. "Das kann man nicht übersetzen", hat eine Dolmetscherin auf den Kulturtagen der Gehörlosen gesagt. "Das ist wie bei einem Gedicht von Enzensberger: Man muss es einfach genießen." Auch ohne zu wissen, worum es in dem Gedicht geht - schön vorgetragene Gebärdensprachpoesie nimmt bei mir den direkten Weg zur Ebene der Gefühle. So wie sonst nur die Musik. "Die armen Hörenden haben keine Gebärdensprachpoesie..." ;-)

Eine sprachliche Minderheit

Mit der Gebärdensprache blühen Gehörlose auf, fallen die vermeintlichen Barrieren in ihrem Leben. In Gebärdensprache können sie sich locker über alles unterhalten, Witze machen (die sich unmöglich in Lautsprache übertragen lassen) und Lieder singen (einem Gebärdensprachchor zuzuschauen, ist einfach phantastisch). "Wir sind nicht behindert", erklären darum Gehörlose immer wieder Hörenden. "Wir sind eine sprachliche Minderheit." Und tatsächlich erinnern die durchaus vorhandenen Probleme Gehörloser in einer hörenden Umwelt weniger den Sorgen Behindeter, als vielmehr den Schwierigkeiten eines Deutschen in einem Urlaubsland, dessen Sprache er nicht kann.

Noch einen wesentlichen Unterschied zu beispielsweise Rollstuhlfahrern oder Blinden gibt es: Gehörlosigkeit kann man nicht sehen. Wenn man als Hörender einen Gehörlosen von hinten anspricht und er nicht reagiert, kann kein Mensch wissen, dass er nicht stur ist, sondern einfach nichts gehört hat. Oder Sie fragen jemanden nach dem Weg, und er antwortet völlig überraschend mit einer Stimme, die grell laut und unverständlich ist. Ich gebe zu, dass ich auch jetzt noch manchmal einen Schreck bekomme, wenn ich gerade nicht damit rechne. Es ist unglaublich schwierig für Gehörlose, ihre Stimme gut zu kontrollieren, ohne sich dabei selbst zu hören. Nur wenigen gelingt das so gut, dass kaum etwas zu bemerken ist, die meisten sprechen "seltsam", manche kann man gar nicht verstehen. Auf jeden Fall weiß ein Hörender vorher nicht, dass sein Gegenüber gehörlos ist und wie er sich verhalten soll.

Mag die Aussprache vielleicht undeutlich sein - "stumm" sind Gehörlose nicht und deshalb auch nicht "taubstumm". Diesen Begriff empfinden Gehörlose sogar als Beleidigung, und Hörende sollten ihn daher nicht gebrauchen. Er steht zwar immer wieder in Zeitungen, und viele Ärzte benutzen ihn, doch das zeigt nur, wie wenig wir Hörenden über Gehörlose wissen. Sagen Sie besser "gehörlos". Auch das Wort "taub" akzeptieren viele Gehörlose, manche bevorzugen es sogar, weil es nicht die Gehör-"losigkeit" betont.

Weil Gehörlose sich selbst als sprachliche Minderheit ansehen, ist die Gehörlosigkeit für sie auch keine Krankheit, wie viele Hörende sie einordnen würden. Wenn die berühmte Märchenfee ihre Runde bei Gehörlosen machen und jedem drei Wünsche zugestehen würde, bekäme sie bestimmt lauter Dinge genannt wie Haus, Reise, Auto, Computer, Motorrad, ... und auch Gesundheit. Mit dieser "Gesundheit" wäre aber meistens nicht gemeint: "Ich will hören können", sondern der Schutz vor Krankheiten und Behinderungen, zu denen Gehörlosigkeit eben nicht gezählt wird.

Das eben Geschriebene möchte ich aber einschränken: Es gibt sehr wohl Gehörlose, die sehr gerne hören würden. Vermutlich sind das sogar mehr, als es zugeben würden. Diese Gehörlosen sehen ihre Gehörlosigkeit häufig auch als Behinderung an und versuchen, sie zu minimieren, sie eventuell zu verbergen, jedenfalls so "normal" (was in diesem Fall "hörend" bedeutet) wie möglich zu sein. Daran ist nichts auszusetzen. Es ist eine persönliche Einstellung, die ebenso akzeptiert werden sollte wie die Entscheidung, sich voll auf die eigene Gehörlosigkeit einzulassen.

Ganz grob ausgedrückt gibt es also zwei Gruppen von Gehörlosen, die sich darin unterscheiden, ob sie die Laut- oder die Gebärdensprache als ihre Muttersprache ansehen. Leider lehnen einige Gehörlose die Entscheidung der jeweils anderen Gruppe ab, wodurch es zu Spannungen kommen kann. Dabei haben beide Parteien die gleichen Probleme in der Kommunikation mit Hörenden, sie gehen nur auf verschiedene Arten damit um. Etwas mehr Toleranz untereinander wäre sehr hilfreich, die gemeinsamen Probleme zu lösen.

Irgendwie anders

Als Lübecker, der nun in der Nähe von Heidelberg lebt, reibe ich mir manchmal verwundert die Augen, was für Sitten und Gebräuche es hier gibt. Und beim Urlaub in Frankreich, Ungarn, Dänemark oder sonstwo ist es ebenso. Und mitunter auch, wenn ich mit Gehörlosen Kontakt habe. Sie sind eben da, die kleinen Unterschiede im Verhalten. Nicht alle bei jedem Gehörlosen, aber so gaaanz pauschal betrachtet fallen gewisse Eigenheiten schon auf. Schließlich hat sogar das Visuelle Theater aus Hamburg einige Punkte in Sketche verarbeitet, die in der Fernsehsendung "Sehen statt hören" ausgestrahlt wurden. Hier seien drei Punkte genannt, die mir aufgefallen sind und den Kontakt zu Gehörlosen betreffen.

Wenn Sie einen Brief oder ein Fax von einem "typischen" Gehörlosen bekommen, werden Sie bemerken, dass es sofort zur Sache geht. Da gibt es keine Höflichkeitsfloskeln zur Einleitung und keine Umschreibungen, da steht nach der Anrede sofort: "Ich will mir deine Kreissäge ausleihen" oder etwas ähnliches. Direkt. Das kommt einem Hörenden schon komisch vor. Wir sind es gewohnt, alles ganz umständlich als höfliche Frage zu verpacken, umgeben von nichtssagenden Anläufen und nachfolgenden Belanglosigkeiten. Wenn ein Gehörloser so etwas liest, weiß er manchmal gar nicht, worum es in dem Brief eigentlich geht. Ihm sind klare Aussagen lieber. Mit Unhöflichkeit hat das nichts zu tun.

Sollten Sie ein Treffen mit einem Gehörlosen abmachen, kann es sein, dass Sie alleine am vereinbarten Ort stehen. Manche Gehörlose sehen Verabredungen nur dann als bindend an, wenn sie ausdrücklich "fest" abgemacht sind. Wollen Sie also auf Nummer sicher gehen, fragen Sie lieber nach, ob der Termin "fest" ist.

Richtig engen Kontakt zu Gehörlosen bekommen nur wenige Hörende. Selbst Leute, die gut gebärden können und sich schon jahrelang mit Gehörlosen treffen, sind oft erstaunt, wie unverbindlich die Beziehungen bleiben. Häufig sind es nur Zweckgemeinschaften, die so lange bestehen, bis ein gemeinsames Projekt abgeschlossen ist. Danach bricht die Verbindung ab oder geht zumindest stark zurück, bis es ein neues Ziel gibt. Kontakte ohne Anlass sind selten.



Wenn Sie bis hier gelesen haben, dann wissen Sie nun ein bisschen besser, wieso es nicht so einfach ist, Gehörlosigkeit zu erklären. Ich denke, so ganz genau kann das kein Hörender und wahrscheinlich auch kein Gehörloser. Denn bei aller Pauschalisierung sollten wir bitte eines nicht vergessen: Die Menschen sind verschieden - jeder einzelne.

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