Gehörlosenkultur www.visuelles-denken.de

"Gehörlosenkultur - Was soll denn das sein?", fragen viele Leute, und manche behaupten rundweg, es gäbe so etwas wie Gehörlosenkultur gar nicht. Wozu dann dieser Abschnitt?

Nun, weil es Gehörlosenkultur eben doch gibt. Der dtv-Brockhaus definiert "Kultur" als "Gesamtheit der typischen Lebensformen größerer Gruppen..." und für das "Deutsche Universalwörterbuch" ist Kultur "Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung". Fragen wir uns also selbst: Sind Gehörlose eine "größere Gruppe"? - Mit rund 80.000 Gehörlosen alleine in Deutschland sind sie das. Ist die Gebärdensprache Teil einer "typischen Lebensform"? - Für die gebärdenden Gehörlosen (also den größten Teil aller Gehörlosen) ist sie es sicherlich. Handelt es sich bei der Kommunikation in Gebärdensprache um eine "geistige Leistung"? - Schon dieser kleine Schnupperkurs hat das ausreichend bewiesen.

Kurz: Gehörlose haben ihre eigene Kultur. So wie Deutsche, Franzosen, und Rumänen. Sie hat ihre ganz speziellen Besonderheiten, zum Beispiel die visuelle Kommunikation (in dieser Hinsicht haben Gehörlose mehr mit Gehörlosen aus Indien, Nigeria oder Australien gemeinsam als mit ihren hörenden Landsleuten). In anderen Bereichen überlappt sie mit der Kultur der Hörenden oder verschmilzt mit ihr. Kultur ist eben nichts abgeschlossenes, sondern ein offenes System, das im ständigen Wechsel und Austausch mit der Umgebung steht.

Eine wesentliche Säule der Gehörlosenkultur ist die Gebärdensprache. Oft denken Gehörlose in ihr, am liebsten kommunizieren sie in Gebärden, und vielfach träumen sie darin. Fehlt eine Gebärde, um eine Sache zu bezeichnen oder etwas auszudrücken, erfindet sie ein Gehörloser aus seinem Sprachgefühl heraus, und die Gemeinschaft übernimmt das neue Element. Schon so mancher Gehörloser hat sich auf diese Weise ein wenig "unsterblich" gemacht.

Verschiedene Theatergruppen, die nur mit gehörlosen oder gemischt mit hörenden Schauspielern besetzt sind, führen ihre Stücke an festen Orten oder auf Tourneen deutschlandweit auf. Die Repertoire umfassen Inszenierungen klassischer oder moderner Werke hörender wie gehörloser Autoren. Letztere beschreiben oft Aspekte des Lebens als Gehörloser. So hat zum Beispiel das Deutsche Gehörlosen-Theater einst das Tabuthema der Sterilisierung Gehörloser im "Dritten Reich" auf die Bühne gebracht. Und das Ensemble des Visuellen Theaters nimmt gerne mal die Schrullen Gehörloser humorvoll aufs Korn. Ob nun ernst oder lustig: Gespielt wird jedenfalls in Gebärdensprache, mitunter sprechen Dolmetscher den Text für hörende Gäste mit.

Künstlerisch veranlagte Naturen experimentieren und "spielen" mit der Gebärdensprache. Sie schaffen Gedichte, in denen sie sich von der Grammatik lösen, die Strukturen neu ordnen, Einzelteile betonen oder Stimmungen weitergeben. Ein Stück besteht beispielsweise vollständig aus Gebärden, die ausschließlich mit der "D-Hand" (eine Faust mit ausgestrecktem Zeigefinger) ausgeführt werden. In anderen Gedichten kommen kaum "echte" Gebärden vor, und trotzdem ist dem geübten Betrachter klar, was die Bewegungen erzählen. Im Unterschied zur Pantomime oder zum Ausdruckstanz bleibt der Künstler dabei auf der Stelle stehen und benutzt nur die obere Hälfte seines Körpers. Manche Stücke bedeuten vielleicht gar nichts, sie tragen nur eine besondere Stimmung. Die Gebärdensprachpoesie durchläuft gegenwärtig eine rasante Entwicklung. Immer mehr Gehörlose versuchen sich darin und bringen neue, wunderbare Ideen ein, die zum großen Teil unmöglich in Lautsprachen zu übertragen sind. Aber selbst wenn man als Hörender wenig oder überhaupt nichts versteht, kann man sich von der Schönheit und Dynamik der Gebärdensprachpoesie verzaubern lassen und sie einfach genießen.

Auch im Bereich der bildenden Kunst sind immer wieder Elemente der Gebärdensprache anzutreffen: Linien folgen den Bewegungen erzählender Hände, oder Körper bilden Buchstaben des Fingeralphabets. Ein häufiges Thema ist der Kampf Gehörloser um die Anerkennung ihrer Sprache. Gesellschaftliche Realität, Politik und Kunst sind hier eng miteinander verwoben. Doch ebenso sind traditionelle Themen wie Stilleben, Landschaft oder Akt bei gehörlosen Künstlern beliebt.

Kulturen zeichnen sich schließlich durch verschiedene Alltagsrituale aus - man denke nur daran, dass Europäer sich zur Begrüßung die Hände schütteln, während im asiatischen Raum die Verbeugung weit verbreitet ist. Auch die Gehörlosenkultur hat ihre vielen kleinen Spezialitäten. Dazu gehört eine große Gastfreundschaft, auch Menschen gegenüber, die man zum ersten Mal sieht, die aber ein Bekannter mitgebracht hat. In Gesprächen unterhält man sich oft über Dinge, die Hörende nur ungern preisgeben, weil sie uns zu persönlich erscheinen. Und weil man sich so selten trifft, aber viel zu berichten hat, gehen Verabschiedungen manchmal über viele Etappen, die jeweils nur einen Schritt dichter an die Haustür führen und von immer neu auflodernden Unterhaltungen unterbrochen werden. Später werden Ihnen sicher noch viele weitere Dinge auffallen, wenn Sie selbst Gehörlose treffen.

Lektion1
Mehr als nur fliegende Hände

Lektion2
Lebendige Gesichter

Lektion3
Das Fingeralphabet

Lektion4
Sich vorstellen

Lektion5
Grundelemente von Gebärden

Lektion6
Wie geht's?

Lektion7
Hin und her

Lektion8
Ein kurzer Blick zurück

Lektion9
Eine vollwertige Sprache

Lektion10
Gehörlosenkultur

Lektion11
Wo geht es weiter?

Schnupperkurs Deutsche Gebärdensprache

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