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Jetzt folgt wieder ein bisschen Theorie. Eine ganz tolle Sache, die es nur in Gebärdensprachen gibt und sonst nirgends. Ein Kniff, mit dem sich Hörende anfangs mitunter schwer tun. Aber wenn Sie ihn gelernt haben, können Sie manchen Satz mit einer einzigen Bewegung ausdrücken. Neugierig? Dann lassen Sie uns nun zusammen den Gebärdenraum erobern.

Nehmen wir einmal an, wir stehen einander gegenüber, und ich möchte Sie fragen: "Kommst du mich morgen besuchen?" Wie wir es gelernt haben, gebärde ich zuerst die Zeitangabe, also "morgen" und danach den ganzen restlichen Satz in einem Rutsch: "Du besuchst mich?" Dabei kommt es genau darauf an, wie ich die Gebärde für "besuchen" ausführe.
Die Formen der Hände sind stets gleich: offen mit aneinanderliegenden Fingern. Der Ausführungsort und die Bewegungsrichtung hängen aber davon ab, wer wen besucht. Es geht in dem Beispiel um Sie und mich, deshalb stellt meine linke Hand sich quer zwischen uns auf, wie ein Zaun, den Sie für einen Besuch überqueren müssen. Die rechte Hand startet bei Ihnen (dem Besucher) und bewegt sich in einem Bogen zu mir (dem Besuchten). Der Mund formt dabei nur das Wort "besuchen" oder "besuch", (fast) die Gebärde alleine macht klar, dass Sie zu mir kommen, und die Mimik bildet daraus eine Frage.

Kommst du mich morgen besuchen?

Jemand besucht einen anderen? "Besuchen" ist eine so genannte Richtungsgebärde. Die Aktion geht von einem Ort oder einer Person aus und hat ihr Ziel an einem anderen Ort oder bei einer anderen Person. Wenn ich mich mit zwei weiteren Leuten unterhalte, die links und rechts von mir stehen, kann ich mit einer einzigen Bewegung gebärden: "Die eine Person besucht die andere."






Ich frage dich.Antworte mir!

Andere Beispiele für Richtungsgebärden sind: fragen, antworten, Bescheid sagen, schicken, faxen... "Ich frage dich." "Antworte mir!" "Ich sage ihm Bescheid." "Du schickst ihm den Brief." "Ich faxe dir." - Ich faxe dir.Immer sind die betroffenen Ich sage ihm Bescheid.Personen daran zu erkennen, wo die Gebärde anfängt und aufhört. Personalpronomen (ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie, ...) sind dadurch weitgehend überflüssig.



Du schickst ihm den Brief.

In dem Beispiel "Er besucht sie" von oben habe ich die Gebärde von einer Seite zur anderen ausgeführt. Weder links noch rechts stand jemand. Woher sollen Sie wissen, von wem ich da erzähle? Des Rätsels Lösung ist der Gebärdenraum. Damit bezeichnet man jenen Bereich um den Gebärdenden herum, in dem er seine Bewegungen ausführt. Im Verlaufe der Erzählung kann er Personen oder Gegenständen einen Ort im Gebärdenraum zuteilen. Wenn ich beispielsweise über einen Mann und eine Frau berichten möchte, gebärde ich "Mann" und weise ihm seinen Platz zu, indem ich kurz eine Faust mit nach oben gestrecktem Zeigefinger an den gewünschten Ort im Gebärdenraum stelle. Anschließend gebärde ich "Frau" und platziere auch sie.

Positionieren der Personen
Als Zuschauer müssen Sie sich diese Zuordnungen merken, denn von jetzt an gebärde ich nicht mehr "Mann" und "Frau", sondern lasse die Richtungsgebärden beim einen beginnen und beim anderen enden.
Er besucht sie. Sie fragt ihn. Er faxt ihr.

Besonders häufig benutzt man diese stellvertretenden Positionen im Gebärdenraum bei der Wiedergabe von Dialogen zwischen zwei Personen. Wenn ich erzählen möchte, worüber der Mann und die Frau sich unterhalten haben, weise ich ihnen zuerst Orte im Gebärdenraum zu.

Positionieren der Personen
Dann schlüpfe ich in die Rolle der zuerst gebärdenden Person, z.B. des Mannes. Dazu drehe ich meinen Schultergürtel leicht und schaue etwas in Richtung der angebärdeten zweiten Person, also der Frau. Das, was der Mann erzählt hat, gebärde ich nun in der Ich-Form, als sei ich dieser Mann. Hat der Mann die Frau etwa gefragt: "Bist du gehörlos?", stelle ich die Frage an den (leeren) Platz der Frau im Gebärdenraum.
Bist du gehörlos?

Für die Anwtort schlüpfe ich in die Rolle der Frau. Ich drehe mich ein bisschen in der Schulter und antworte an ihrer Stelle: "Ich bin hörend."
Ich bin hörend.

Wieder wechselt die gebärdende Person, wieder drehe ich mich. "Du gebärdest gut", lobt der Mann.
Du gebärdest gut.

"Danke", antwortet die Frau.
Danke.

Habe ich meinen Dialog zu Ende erzählt, drehe ich mich wieder zurück in meine Ausgangsposition.

Das soll als erste Expedition in den Gebärdenraum genügen. Wahre Könner erschaffen mit seiner Hilfe räumliche Landschaften und Gesellschaften, und führen ihre Zuschauer von einer Person zur nächsten und von einem Ort zum anderen. Man kann sich darin aber auch verlaufen und fragt sich immer wieder selbst, für wen diese Position nochmal steht. Das ist dann ähnlich verwirrend wie gesprochene Sätze von der Art: "Dann hat er ihm das gegeben, obwohl sie dem nichts davon gesagt hatte."

Lektion1
Mehr als nur fliegende Hände

Lektion2
Lebendige Gesichter

Lektion3
Das Fingeralphabet

Lektion4
Sich vorstellen

Lektion5
Grundelemente von Gebärden

Lektion6
Wie geht's?

Lektion7
Hin und her

Lektion8
Ein kurzer Blick zurück

Lektion9
Eine vollwertige Sprache

Lektion10
Gehörlosenkultur

Lektion11
Wo geht es weiter?

Schnupperkurs Deutsche Gebärdensprache

Hand nach links Hand nach rechts
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