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Zu einem Sprachkurs gehört auch, dass man ein wenig über die Geschichte der Sprache und ihrer Menschen erfährt. Das ist in unserem Fall nicht ganz so einfach, denn für gewöhnlich interessierten sich Geschichtsschreiber nicht sonderlich für das einfache Volk, geschweige denn für so seltsame Wesen wie Gehörlose. Die üblichen Quellen verraten also wenig oder enthalten dummes Zeug. So war zum Beispiel Platon der Ansicht, ein Mensch, der nicht sprechen kann, könne auch nicht denken. Vermutlich änderte sich das ganze Mittelalter hindurch nichts an dieser Einstellung zu Gehörlosen. Wer nicht hören konnte, gehörte damit zur untersten sozialen Schicht oder war gar völlig rechtlos.

Weil Gehörlosigkeit mitunter auch reiche oder adlige Familien betrifft, Gehörlose aber nicht erbberechtigt waren, herrschte in den oberen Gesellschaftsschichten ein gewisser Druck, das Problem zu "lösen" - Gehörlosen also das Sprechen beizubringen als Zeichen, dass sie denkende Menschen und mögliche Erben waren. Außerdem waren Vertreter der Kirche um das Seelenheil der Gehörlosen besorgt und suchten ihrerseits nach Wegen, ihren Glauben auch ohne gesprochene Worte zu verbreiten. Aus dem Spanien des 16. Jahrhunderts stammen erste Berichte über Lehrer und Unterricht für Gehörlose. Der Mönch Pedro Ponce de León hatte einige Schüler, und etwas mehr als 100 Jahre später trat mit Etienne de Fay der erste Gehörlose selbst als Mönch, Lehrer und Architekt auf.

Als "der alte taubstumme Mann" erlangte de Fay in seiner Heimatstadt Amiens in Frankreich eine beachtliche Berühmtheit. 1669 geboren, hatte er das große Glück, in der Abtei von Amiens eine gute Ausbildung zu erhalten und fest in ein soziales Netz eingebunden zu sein. Seine vielseitigen Fähigkeiten konnte de Fay zum Beispiel unter Beweis stellen, als er den Auftrag erhielt, die Pläne für den Wiederaufbau der Abtei von Saint-Jean d'Amiens zu entwerfen. Nach dem zweiten Weltkrieg hat die Gemeinde das Bauwerk nach diesen Plänen neu errichtet, sodass es auch heute noch zu bewundern ist.
De Fay nutzte sein Glück und seine Begabung jedoch nicht für sich alleine, sondern gab das Geschenk weiter, indem er gehörlose Schüler in Gebärdensprache und in geschriebener Form unterrichtete.

Etwa zur gleichen Zeit brachte der Hörende Pereire gehörlosen Kindern das Sprechen bei. Der Streit um die richtige Methode, wie Gehörlose zu unterrichten seien - ob in Lautsprache oder Gebärdensprache - nahm seinen Anfang.

Als wesentlicher Meilenstein gilt die Gründung der ersten Gehörlosenschule der Welt im Jahre 1760 in Paris durch den hörenden Abbé Charles Michel de l'Epée. Entgegen der Meinung vieler Leute hat de l'Epée die Gebärdensprache nicht erfunden - dieser Ruhm gebührt den Gehörlosen selbst, die miteinander gebärden, sobald zwei von ihnen zusammentreffen. Der Abbé hatte die Gebärden von den Gehörlosen gelernt und in seiner Schule eingesetzt. Aber er wollte sie mit der Struktur des gesprochenen Französisch versehen. Heraus kamen die so genannten "methodischen Gebärden", die einen Kompromiss zwischen den beiden Sprachwelten darstellten.

Der bedeutendste Gegenspieler de l'Epées war der Deutsche Samuel Heinicke, der ab 1778 die erste deutsche Gehörlosenschule in Leipzig leitete. Heinicke benutzte zwar noch Gebärden als Hilfsmittel, forderte jedoch, dass Gehörlose in Lautsprache zu unterrichten seien. Beide Methoden existierten lange Zeit nebeneinander sowie in verschiedenen Mischformen.

Da Gehörlosigkeit relativ selten ist, gab es nur wenige Schulen, und die Kinder kamen von weit her. Sie lebten in einem Internat und fühlten sich schnell untereinander mehr verbunden als mit den Hörenden ihrer Heimatorte. Es entwickelte sich die Gehörlosengemeinschaft, deren Mitglieder Erfahrungen, Probleme, Hoffnungen und Wünsche haben, die ihre hörenden Mitmenschen nicht teilen. 1838 entstand in Paris schließlich der erste Gehörlosenverein der Welt.

Für die Gehörlosen brachen ihre "goldenen Zeiten" an. In Frankreich taten sich drei gehörlose Lehrer hervor: Jean Massieu, Laurent Clerc und Ferdinand Berthier. Clerc ging in die USA und gründete 1817 zusammen mit dem Hörenden Thomas Hopkins Gallaudet die erste amerikanische Gehörlosenschule. Nicht ganz 50 Jahre später entstand das Gallaudet-College in Washington D.C. unter der Leitung von Edward Miner Gallaudet - heute ist es als Gallaudet University weltweit die einzige Universität speziell für Gehörlose.

Während Gehörlose in den USA über die Gebärdensprache immer mehr Bildung erlangen konnten, entwickelte sich Europa stärker in Richtung oraler Erziehung, also mit strenger Ausrichtung auf die Lautsprache. Die Entscheidung fiel 1880 auf dem zweiten Mailänder Kongress, zu dem fast ausnahmslos hörende Pädagogen mit Hang zur oralen Methode geladen waren. Sie beschlossen, den oralen Unterricht als das einzig richtige Verfahren an allen Gehörlosenschulen einzuführen. In der Folge wurden gehörlose Lehrer von den Schulen verdrängt und die Gebärdensprache verboten. Schüler, die trotzdem gebärdeten - und sei es nur in der Pause auf dem Schulhof - wurden streng bestraft.

Unter dem Nazi-Regime galten Gehörlose als "lebensunwert" und wurden nach Beendigung der Schule oft als "Erbkranke" zwangssterilisiert. Viele wurden auch als "Schwachsinnige" im Rahmen des "Euthanasie-Programms" umgebracht.

Nach dem Krieg herrschte in den deutschen Gehörlosenschulen weiter die orale Methode vor. Es kam den Lehrern oft gar nicht darauf an, Wissen zu vermitteln, ihre Schüler sollten nur sprechen können. Doch häufig verstanden die Kinder nicht, was sie da eigentlich sagten. Darum ist bei älteren Gehörlosen das Bildungsniveau selbst heute leider ausgesprochen niedrig. Nach der Schule stand ihnen nur ein schmales Spektrum von Berufen offen. Lange, lange beschränkte sich das eigentliche Leben der Gehörlosen auf ihre Vereine.

Erst in den 70er Jahren gab es Bewegung. Bildungshungrige Gehörlose organisierten Treffen, an denen vereinzelt auch Gehörlosen-Pädagogen teilnahmen, die damals noch "Taubstummenlehrer" hießen; ein Gebärdenlexikon kam auf den Markt; die ersten Kurse in Gebärdensprache wurden entwickelt; mutige Gehörlose klagten ihre Zulassungen zu Universitäten und Prüfungen ein; neue Zeitschriften für Gehörlose entstanden und und und.

Die Entwicklung dauert immer noch an, und das erste große Ziel, die politische Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache, ist seit dem 1. Mai 2002 erreicht. Aber eine Menge kleinerer und größerer müssen noch erkämpft werden. Immerhin hält die Gebärdensprache wieder an vielen Schulen Einzug, und Gehörlose bekommen eine Ausbildung, die im wesentlichen gleichwertig zu den Regelschulen ist. Viele beginnen anschließend ein Studium und erringen danach Stellen, die ihnen früher nicht zugänglich gewesen wären. Dank der vielen Volkshochschulkurse in Deutscher Gebärdensprache gibt es immer mehr Hörende, die auch gebärden können und so weitere Brücken zwischen den beiden "Welten" bilden. Der Bedarf machte es nötig, für Dozenten und Dolmetscher der Gebärdensprache standardisierte Ausbildungen zu schaffen. Dank der wachsenden Zahl von aktiv forschenden Linguisten an deutschen Universitäten wird die Grammatik der Sprache immer besser erfasst, und neue Konzepte für den Unterricht entstehen. Und schließlich hat das Internet den Gehörlosen Wege der Kommunikation gegeben, von denen sie vor kurzem nicht zu träumen gewagt hätten: Per E-Mail, Chat und Videokonferenz können sie sich endlich frei mit anderen Gehörlosen auf der ganzen Welt austauschen und neue Kontakte knüpfen.

Geschichte ist nie zu Ende und wird gemacht, statt einfach zu geschehen. Es bleibt spannend, was die Gehörlosen mit ihrer weiteren Geschichte machen werden.

Lektion1
Mehr als nur fliegende Hände

Lektion2
Lebendige Gesichter

Lektion3
Das Fingeralphabet

Lektion4
Sich vorstellen

Lektion5
Grundelemente von Gebärden

Lektion6
Wie geht's?

Lektion7
Hin und her

Lektion8
Ein kurzer Blick zurück

Lektion9
Eine vollwertige Sprache

Lektion10
Gehörlosenkultur

Lektion11
Wo geht es weiter?

Schnupperkurs Deutsche Gebärdensprache

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