Lebendige Gesichter www.visuelles-denken.de

"Denn unsere Welt, sie steht und fällt mit jedem Gesicht", hieß es einmal in einem deutschen Schlager über das Lächeln. Und tatsächlich: Selbst ein so eindeutig erscheinender Satz wie: "Das hast du ganz toll gemacht" kann durch die Betonung der Stimme und Mimik des Gesichtes zu einem strengen Tadel werden. Auch wenn jemand traurig ist oder sich richtig freut, lässt sich das an seinem Gesicht ablesen. Und wenn einmal im wahrsten Sinne des Wortes die Suppe versalzen ist, bedarf es keines Satzes, um das mitzuteilen.

Leider ist es in der deutschen Gesellschaft Mimikunterschwellig verpönt, beim Sprechen die Mimik mitspielen zu lassen. Gefühle zu zeigen wird oft als unseriös oder gar Schwäche angesehen. Doch das muss nicht so sein. In Italien zum Beispiel lebt beim Sprechen das ganze Gesicht. Parallel zu seinen Worten ergänzt der Erzähler mit der Mimik seine Geschichte. Fährt er darin schnell Auto, kneift er seine Augen zu Schlitzen zusammen und schiebt den Kopf ein wenig vor, Mimikbemerkt er eine schöne Frau auf dem Gehweg, öffnet er weit die Augen, presst die Lippen aufeinander oder pfeift sogar, kurz darauf legt er die Stirn in Falten und wirft den Kopf leicht nach hinten, während er sich beschwert, dass der Autofahrer vor ihm das gleiche gemacht hat und beide fast zusammengestoßen wären. All das ist untermalt mit den entsprechenden Handbewegungen. Wetten, dass Sie Mimikdie Geschichte verstehen, ohne ein Wort Italienisch zu können? "Ich dachte zuerst, die sind da alle gehörlos", erzählen Gehörlose manchmal ganz begeistert, wenn sie aus dem Italienurlaub zurückkehren.







Wecken wir also den schlummernden Südländer in dickuns, und bewegen wir unsere Gesichtsmuskeln (übrigens soll das auch gut gegen Fältchen sein). Stellen Sie sich einen Spaziergang auf dem Wochenmarkt vor. Gleich vorne gibt es Kürbisse. Und weil der Sommer so schön war, sind die richtig groß und dick. Wie sehen die aus? Arme auseinander, als würden Sie den Umfang eines Kürbis zeigen, Backen aufblasen: Sooo sehen die aus!

dünnZwei Stände weiter liegen ein paar Stangen Lauch. Die sind so dünn, dass sie keiner kaufen mag. Wangen nach innen ziehen, und mit Daumen und Zeigefinger einer Hand andeuten, wie schmal der Lauch war.

Auch wenn die Saison schon kleinlängst vorüber ist, bietet ein Händler noch Erdbeeren an. Aber so winzige, dass man sie fast für Kirschen halten könnte. Pressen Sie die Lippen aufeinander, und kneifen Sie die Augen zusammen, um überhaupt sehen zu können, was für wenig Platz da zwischen Ihrem Zeigefinger und Daumen bleibt.

Haben Sie alles mitgemacht? Wunderbar. Ganz ehrlich: Das macht doch auch Spaß, oder? Also gleich weiter...


normales LesenIn der Gebärdensprache drückt die Mimik häufig Umstände aus, die man in gesprochener Sprache mit Worten sagen muss. Lässt man beim Übersetzen die Mimik außer acht, geht ein wichtiger Teil der Information verloren. Als Beispiel schauen wir uns den Satz an: "Ich lese ein Buch." Für die neutrale Aussage hält man einfach die Hände wie ein geöffnetes Buch vor sich und schaut in die Handflächen.

interessiertes LesenIst der Inhalt interessant, dann zieht man die Augenbrauen leicht nach oben, schiebt die Lippen leicht vor und öffnet sie ein wenig (das ist schwer mit Worten zu beschreiben, was für ein Glück, dass es so viele Bilder auf diesen Seiten gibt). Die Übersetzung müsste dann lauten: "Ich lese ein interessantes Buch."


genießendes LesenDas lässt sich steigern, indem man die Augenbrauen weiter hebt und mit dem Mund lächelt. "Ich lese ein tolles Buch", heißt diese eine Gebärde in Kombination mit der Mimik. (Ich hoffe, Sie machen alles brav nach. Wir wollen hier doch gemeinsam ein bisschen gebärden üben.)



angestrengtes LesenNun gibt es auch Bücher, die nicht so angenehm zu lesen sind. Haben Sie Probleme, den Inhalt zu verstehen oder der Handlung zu folgen, dann ziehen Sie die Augenbrauen hoch, beißen die Zähne zusammen und öffnen den Mund. "Ich lese ein anstrengendes Buch", geben Sie damit bekannt.

ablehnendes LesenUnd wenn es ganz schlimm kommt, drücken Sie Ihr Missgefallen mit vorgeschobener Zunge und abwertendem Blick aus. "Das Buch taugt nichts", wäre eine mögliche Übersetzung.





Ja, Mimik kann dem Satz den entscheidenden Inhalt geben. Aber sie ist noch mächtiger: Von der Mimik hängt es ab, ob ein Satz als Aussage, Frage oder Befehl gemeint ist.

Nehmen wir an, Sie möchten sich mit jemandem bei Ihnen duzu Hause treffen. "Du kommst zu mir", gebärden Sie in zwei Schritten: Für das "Du..." zeigen Sie mit dem Zeigefinger auf Ihren Gesprächspartner. "...kommst zu mir" wird ausgeführt, indem Sie die Hand drehen, sodass der Zeigefinger immer noch auf die andere Person gerichtet ist, aber nun weist der Handrücken nach unten. Aus dieser Startposition bewegen Sie den Zeigefinger durch ein Knicken im Handgelenk in einem Bogen, sodass er in der Endposition auf Sie selbst zeigt. Mit dem Mund formen Sie dabei nur die Laute "kommst" oder "kommen", nicht den ganzen Satz. Wer wohin geht, wird durch die Bewegung klar. Keine Angst, es ist kompliziert mit Worten zu beschreiben, eigentlich ist es eine ganz einfache Bewegung. Schauen Sie nur auf die Bilder, und machen Sie es nach.
du kommst zu mir - Aussage






Bei diesem normalen Aussagesatz ist die Mimik neutral.




du kommst zu mir - Frage Vielleicht ist aber noch nicht klar, wer zu wem kommen soll. Dann stellen Sie mit dem Satz eine Frage. Dazu ziehen Sie bei "kommst" die Augenbrauen hoch und öffnen die Augen weit. Diese Mimik (hochgezogene Augenbrauen und große Augen) sind das Fragezeichen in Gebärdensprache.









du kommst zu mir - Befehl Können Sie sich nicht einigen, oder wenden Sie sich an ein Kind, das beim strömenden Regen wieder rein ins Haus kommen soll, dann ziehen Sie die Augenbrauen in der Mitte der Stirn zusammen und kneifen die Augen ein bisschen zu. Schon erscheint das Ausrufezeichen am Satzende. Sie haben nun eine Aufforderung oder einen Befehl gebärdet.

Kaum zu glauben, welche Vielfalt und Ausdrucksstärke alleine die Mimik ermöglicht. Und dabei ist das nur der Anfang. Wenn Sie sich länger mit der Gebärdensprache beschäftigen, werden Sie erstaunt sein, wie fein differenziert unser Gesicht erzählen kann. Und auch, wie viel unsere Mitmenschen selbst durch ihre unterdrückte Mimik unbewusst über ihre wahren Gedanken und Gefühle verraten.

Zur Entspannung und als Anregung für eigene Mimik-Übungen nun ein paar Schnappschüsse von den 3. Deutschen Kulturtagen der Gehörlosen, die Anfang September 2001 in München stattgefunden haben.

Bilder von den Kulturtagen

Lektion1
Mehr als nur fliegende Hände

Lektion2
Lebendige Gesichter

Lektion3
Das Fingeralphabet

Lektion4
Sich vorstellen

Lektion5
Grundelemente von Gebärden

Lektion6
Wie geht's?

Lektion7
Hin und her

Lektion8
Ein kurzer Blick zurück

Lektion9
Eine vollwertige Sprache

Lektion10
Gehörlosenkultur

Lektion11
Wo geht es weiter?

Schnupperkurs Deutsche Gebärdensprache

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